Eine Baslerin rettet 300 jüdische Kinder

Text: Antonia Schmidlin

Es war ein Brief, der 300 jüdischen Kindern das Leben rettete: «In Anbetracht der heutigen Notlage, die gewiss auch Sie wie alle mitfühlenden Menschen bedrückt, erlaube ich mir, das Gesuch zu stellen, es möchte uns gestattet werden, 250 bis 300 Kinder aus Deutschland nach der Schweiz zu retten. […] Wir wissen, dass wir ohne Mühe Platz für diese Kinder finden werden.»

Georgine Gerhard, 1886-1971. Abdankungsrede 1971. Fotograf unbekannt. Basel UB Hauptbibliothek.
Georgine Gerhard, 1886-1971. Abdankungsrede 1971. Fotograf unbekannt. Basel UB Hauptbibliothek.

Diese Zeilen richtete die Baslerin Georgine Gerhard im November 1938 an Heinrich Rothmund, den Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes. Georgine Gerhard war für Heinrich Rothmund keine Unbekannte: Die Basler Lehrerin gehörte zu den wichtigsten Persönlichkeiten unter denjenigen Schweizerinnen und Schweizern, die sich zur Zeit des Nationalsozialismus für Flüchtlinge einsetzten. Sie leitete die Basler Sektion des Schweizer Hilfswerkes für Emigrantenkinder (SHEK). Das Hilfswerk unterstützte seit 1933 deutsche Familien, die nach Paris geflüchtet waren. Es organisierte auch Plätze in Schweizer Gastfamilien, die ein bedürftiges Flüchtlingskind für einige Zeit bei sich aufnahmen. Anlässlich der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 – auch bekannt unter dem nationalsozialistischen Begriff «Reichskristallnacht» – war in Frankfurt das Israelitische Waisenhaus in höchste Gefahr geraten. Wie Georgine Gerhard von der Israelitischen Fürsorge Basel erfahren hatte, waren die betroffenen Kinder nach der Zerstörung des Waisenhauses nun vollkommen schutzlos sich selbst überlassen. Überraschenderweise konnte Heinrich Rothmund sich «grundsätzlich bereit erklären, die Bewilligung zur vorübergehenden Einreise von verlassenen Kindern» zu erteilen.

Kantönligeist

Georgine Gerhard kümmerte sich nun um Plätze in Schweizer Gastfamilien. Dazu waren aufreibende Verhandlungen mit den kantonalen Behörden notwendig, erteilten diese doch die Bewilligung für den Aufenthalt von Emigrantinnen und Emigranten. Nicht alle Kantone zeigten sich kooperativ; einige lehnten die Einreise der Kinder ab, andere verlangten hohe Kautionen.

Am 5. Januar 1939 kamen 100 Kinder aus Frankfurt in die Schweiz. Das erlaubte Kontingent von 300 wurde ergänzt mit weiteren bedrohten Kindern aus dem an die Schweiz angrenzenden Gebiet und den noch in Deutschland befindlichen Kindern von Eltern, die bereits in die Schweiz geflüchtet waren. Nun machten die ehemals grosszügigen Behörden plötzlich einen Rückzieher, indem sie einige Gesuche ablehnten oder deren Bearbeitung verzögerten. In zahlreichen Fällen kam es deswegen zu illegalen Einreisen, weil die Gefährdeten nicht mehr länger auf eine Bewilligung warten konnten, um ihr Leben zu retten. Georgine Gerhard empörte sich und wollte das Fehlverhalten der Schweizer Behörden in der Presse anprangern. Die Leiterin des SHEK in Zürich riet jedoch zur Mässigung, was sich in diesem Fall als erfolgreich erwies: Die 300 Kinder konnten einreisen. In einem Punkt aber konnte sich das SHEK nicht durchsetzen: Die Alterslimite der aufgenommenen Kinder war von 17 auf 14 Jahre heruntergesetzt worden. Auch hier wollte sich Georgine Gerhard zunächst wehren. «Ich glaube, dagegen sollten wir uns energisch wehren. Gerade die 15-16 jährigen Knaben sind die gefährdetsten. Sie werden in Lager gesteckt, und niemand weiss, ob sie wieder lebend herauskommen.» Leider sollten sich diese Befürchtungen bewahrheiten.

Sondernummer: Kinderhilfe SRK vom 27.11.1942 Nr. 119 (Quelle: Cinémathèque suisse und Schweizerisches Bundesarchiv, J2.143#1996/386#119-1#1*)

Mehr Schweizer Filmwochenschauen im Schweizerischen Bundesarchiv und auf memobase

Der Beitrag der Filmwochenschau aus dem Jahre 1942 zeigt eine vorübergehende Aufnahme von Kindern und verschweigt die restriktive Praxis an der Grenze. Es entsteht ein idealisiertes Bild einer humanitären Schweiz, die es leider in dieser Form nicht gab.

Dauerndes Provisorium

Für die Anfang des Jahres 1939 aufgenommenen Kinder organisierte das Hilfswerk die Unterbringung in Privatfamilien oder Heimen. Die schweizerischen Behörden verlangten von den Hilfswerken, dass sie sich stets um die «Weiterwanderung» ihrer Schützlinge kümmerten. Diese waren dadurch einem grossen psychischen Druck ausgesetzt. Dazu kam die finanzielle Belastung: Die Ausreise eines Flüchtlingskindes mit dem Schiff nach den USA kostete das Hilfswerk beispielsweise etwa 2’000 Franken, was damals mehreren Monatslöhnen entsprach. Da diese Weiterwanderungsmöglichkeiten während des Krieges sehr beschränkt waren, blieben schliesslich mehr als die Hälfte der 300 aufgenommenen Kinder bis nach dem Krieg in der Schweiz. Das Bewusstsein, in einem «dauernden Provisorium» zu leben, lastete jedoch schwer auf ihnen.

Von den im Januar 1939 aufgenommenen Kindern fanden 47 in Buus in einem vom SHEK organisierten Kinderlager Aufnahme. Im April 1939 wurde diese Kinderkolonie nach Langenbruck in das Heim Waldeck verlegt. Unterstützung erhielt das Heim vom Israelitischen Frauenverein, von der Flüchtlingshilfe Baselland, vom Frauenverein Liestal und vom Basler Erziehungsdepartement. Zum grössten Teil aber finanzierte das SHEK seine Hilfe über Spenden, zum Teil in Form von monatlichen Patenschaften, die für bestimmte Kinder übernommen wurden.

Autoren

Antonia Schmidlin, Mitglied Verein Basler Geschichte.

Sie ist Historikerin in Basel und unterrichtet Geschichte und Italienisch am Gymnasium Liestal. Publikationen über die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Geschlechtergeschichte und Regionalgeschichte Basel.

Nachweise

Antonia Schmidlin: Eine andere Schweiz. Helferinnen, Kriegskinder und humanitäre Politik 1933-1942. Zürich 1999

Georgine Gerhard, 1886-1971. Leichenrede. 15 S.

Basel UB Hauptbibliothek. Magazin | Signatur: UBH Fz 251:1971 Gerhard