Luisa und die alten Knochen

Text: Laura Rindlisbacher

«Wie können Forscher*innen anhand eines Knochens so viel über die Identität eines Individuums herausfinden?

... wunderte sich Luisa bei unserem Besuch in der Basler Primarschule Isaak Iselin. Laura Rindlisbacher hat geantwortet. Als Archäoanthropolog*in untersucht sie die körperlichen Überreste von Menschen, die man bei archäologischen Ausgrabungen entdeckt hat.

Bei Laura im Labor

Luisa, vielen Dank für deine spannende Frage. Ich bin Laura Rindlisbacher und arbeite als Archäoanthropolog*in. Wir sind hier bei der Archäologischen Bodenforschung Basel-Stadt am Petersgraben 11. Vor einigen Monaten haben wir ein spannendes Skelett bei der Barfüsserkirche entdeckt. Dieses werde ich nun auslegen. Dann schauen wir es uns zusammen an, und ich zeige dir, was wir anhand dieser alten Knochen über ein Individuum erfahren können.

Ich habe diesen Fund gewählt, weil das Individuum sehr speziell ist. Es lag nämlich nicht in einem Grab wie man es kennt, sondern kompakt in einer viereckigen Form. Das spricht für eine sehr kleine viereckige Kiste. Rasch hat man zudem gemerkt, dass gewisse Teile des Skeletts nicht dort lagen, wo sie eigentlich hingehörten. In der Kiste lag beispielsweise der Schädel im unteren Bereich der Wirbelsäule, also am falschen Körperende. Zudem fehlten einige Körperteile wie beispielsweise das Becken, das rechte Bein, die Unterarme und beide Hände.

Das ist ungewöhnlich! Denn meistens finden wir solche Skelette vollständig. Wir nehmen deshalb an, dass es sich bei dieser Bestattung um eine sogenannte "sekundäre Bestattung" handelt. Das bedeutet, dass man das Individuum zuerst normal bestattet hat. Dann hat man es zu einem späteren Zeitpunkt wieder ausgegraben, in die Kiste gepackt, und die Kiste wieder in die Erde gelegt. Weshalb man das tat, wissen wir nicht.

Jung oder Alt?

Zuerst schauen wir, in welchem Alter das Individuum verstorben ist. Beim Alter muss man in einem ersten Schritt unterscheiden, ob das Individuum im Kindesalter oder im Erwachsenenalter verstorben ist. Denn für Kinder hat die Anthropologie andere Methoden als für Erwachsene. Unser Individuum zeigt bereits einige Belastungsspuren, beispielsweise am Oberschenkelhals oder an der Wirbelsäule. Das spricht dafür, dass dieses Individuum nicht mehr jung war, als es verstorben ist. Es war eher zwischen 50 und 60 Jahre alt.

Mann oder Frau?

Als nächstes schauen wir, welchem Geschlecht wir das Individuum zuordnen können. Frauen und Männer haben einen unterschiedlichen Körperbau und auch ihre Hormone funktionieren anders. Natürlich besteht der grösste Unterschied darin, dass Frauen Kinder gebären. Genau diese Unterschiede macht sich die Anthropologie zunutze.

Wir haben einen Katalog an Merkmalen, die wir uns anschauen, insbesondere am Schädel und am Becken. Diese Merkmale beurteilen wir entweder makroskopisch – also von blossem Auge – oder indem wir einzelne Körperteile vermessen und anhand bestimmter Tabellen vergleichen.

Bei diesem Individuum fehlt nun ausgerechnet das Becken. Deshalb müssen wir uns für die Geschlechtszuweisung vor allem den Schädel anschauen. Bei unserem Individuum weisen die stark ausgeprägten Muskelansatzstellen am Hinterkopf und der kräftig ausgebildete am Kiefer auf einen Mann hin. Auch die ausgeprägten Augenwülste sprechen eher für ein männliches Individuum.

Gesund oder krank?

Neben dem Alter und dem Geschlecht wollen wir mehr über die Lebensbedingungen wissen. Dafür suchen wir nach Veränderungen am Skelett. Zum Beispiel nach Knochenbrüchen oder nach Spuren von Krankheiten. Knochenbrüche finden wir gar nicht so selten! Einzig, wenn ein Bruch sehr gut verheilt ist, sehen wir ihn von blossem Auge nicht gut. Bei unserem Individuum erkennen wir eine leicht gewölbte Verdickung am Knochen. Das ist eine gebrochene Rippe, die aber gut verheilt ist. Rippenbrüche treffen wir Anthropolog*innen immer wieder an. Sie waren meist auch nicht dramatisch. Weitaus schlimmer waren Knochenbrüche, bei denen sich Körperteile verkürzten oder versteiften, und man sich nicht mehr richtig bewegen konnte.

Auch Krankheiten können Spuren am Körper hinterlassen. Dazu braucht es aber eine gewisse Zeit. Krankheiten wie die Pest oder Cholera, die früher sehr rasch zum Tod führten, sieht man am Knochen nicht. Aus dem einfachen Grund, weil dem Knochen gar keine Zeit blieb, um auf die Krankheit zu reagieren. Trotzdem können wir Anthropolog*innen solche Krankheiten nachweisen! Wir nehmen dafür Proben am Knochenmaterial und untersuchen die Proben molekulargenetisch. Das bedeutet: Wir suchen in den Proben nach alter DNA. In der DNA finden wir dann Spuren der Krankheitserreger und können sehen, woran ein Individuum gestorben sein könnte.

Aus welcher Zeit?

Leider wissen wir bei dieser Sonderbestattung nicht genau, aus welcher Zeit sie stammt. Wahrscheinlich datiert sie ins Mittelalter. Das Mittelalter umfasst aber einen sehr langen Zeitraum. Deshalb könnte es sich in diesem Fall lohnen, eine sogenannte C14-Datierung vorzunehmen. Bei C-14 handelt es sich um eine Variante des chemischen Elements Kohlenstoff, das man in organischem Material wie Knochen findet. Wir kennen die Zeitspanne, die dieses Element braucht, um sich abzubauen. Indem wir also messen, wie viel C-14 noch in einer Probe vorhanden ist, können wir ausrechnen, aus welcher Zeit ein Objekt stammt. Zu diesem Zweck würden wir den Knochen beproben und in einem Labor untersuchen lassen. Mit einer C14-Datierung liesse sich der Zeitraum viel enger eingrenzen.

Zusammen geht es besser

Bei solchen Beispielen sieht man gut, dass die Anthropologie eng mit anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen zusammenarbeitet. Denn zusammen können wir mehr über ein Individuum herausfinden als alleine. Und je mehr wir über ein Individuum erfahren, desto mehr wissen wir über die Welt, in der das Individuum damals lebte.

Du siehst, Luisa, was für das Leben gilt, gilt auch für die Forschung: Nur zusammen kommen wir wirklich weiter!  

Text

Laura Rindlisbacher studierte Prähistorische und Naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Basel. Anders als «Bones – Die Knochenjägerin» jagt sie zwar keine Verbrecher, aber die Figur hat sie doch dazu inspiriert, sich auf physische Anthropologie zu spezialisieren. Seit 2019 arbeitet sie an ihrer Dissertation über die Bestattungen des 16.-18. Jahrhunderts aus dem Kreuzgarten des Barfüsserklosters. Dabei versucht sie über die osteologische Untersuchung der Knochen mehr über die frühneuzeitlichen Menschen und ihre Lebensbedingungen zu erfahren.

Film

Moritz Willenegger studierte Geschichte und Medienwissenschaften an der Universität Basel. Danach studierte er Film an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit 2011 ist er freischaffender Filmemacher. Zurzeit dreht er - unter anderem - eine Dokumentation über das Balthasar-Neumann Ensemble und die Überlebensstrategien freischaffender Musiker. Einen Einblick in das Projekt findest du hier.