Meret Oppenheim (1913-1985) – zwischen Porzellan und Pelz

Text: Sophie Hüglin

Mit 18 Jahren malt Meret Oppenheim eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm, aus dessen Hals Blut spritzt. Sie nennt es "Würgeengel". Dieses Bild soll sie wie ein Votivbild magisch vor dem Kinderkriegen schützen aber auch vor den Moralvorstellungen, die das Leben von Frauen und ganz konkret das ihrige zu bestimmen versuchen. Immer wieder während ihres Lebens wird sie sich aus Verengungen lösen.

Berlin, Délemont, Steinen und immer wieder Carona

Meret Elisabeth Oppenheim wird am 6. Oktober 1913 als Tochter des deutschen Arztes Erich Alfons Oppenheim und seiner Schweizer Frau Eva Wenger in Berlin geboren. Die Kriegsjahre verbringt sie mit ihrer Mutter in Délemont/Delsberg (Kt. Jura), wo die Grosseltern Wenger eine Messerfabrik betreiben. Sie wird evangelisch erzogen. Nach dem Krieg ziehen die Eltern nach Steinen im Wiesental (Lkr. Lörrach), wo der Vater eine Praxis betreibt. Ausserdem ist Meret oft im Tessin; in Carona bei Lugano besitzen die Grosseltern Wenger ein grosses Haus. Hier kommt sie in Kontakt mit Künstlern wie Hugo Ball und Hermann Hesse. Merets Tante war sogar kurz mit Hermann Hesse verheiratet. Grossmutter Lisa Wenger war ein wichtiges Vorbild: sie hatte die Kunstakademie in Düsseldorf besucht, war Malerin, Autorin und engagierte Frauenrechtlerin.

Merets Vater ist mit dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung befreundet und besucht dessen Seminare in Zürich. So kommt auch sie mit Jungs Ideen über die menschliche Psyche und das kollektive Unbewusste in Berührung. Sie beginnt ihre Träume in einem Tagebuch festzuhalten; es wird für sie zu einer wichtigen Inspirationsquelle. Noch als Schülerin fertigt sie die Collage "Das Schulheft" an; es wird in der zweiten Nummer der Zeitschrift "Le Surréalisme" abgebildet. Sie will das Gymnasium vorzeitig verlassen; ihr Vater stimmt zu.

Ex voto (Würgeengel), 1931
Abb. 1: "Ex voto (Würgeengel)", Meret Oppenheim, Aquarell 1931. Zu sehen ist eine Frau mit einem Säugling, aus dem Blut spritzt. Das Votivbild soll die junge Künstlerin magisch vor dem Kinderkriegen schützen und vor Zwangsvorstellungen wie man als Frau zu leben hat (akg-images / M. Oppenheim / © 2021, ProLitteris, Zurich).

Mit Zwanzig nach Paris – der wandelnde Surrealismus

Im Mai 1932 zieht sie mit 18 Jahren nach Paris, um Malerin zu werden. Sie lebt dort mit ihrer Basler Freundin, der Malerin und Tänzerin Irène Zurkinden. Die Schweizer Bildhauer Alberto Giacometti und Hans Arp führen Meret in die surrealistischen Kreise um André Breton ein. Wenig später bildet sie der Fotograf Man Ray mit einer Druckerpresse ab: nackt und voller Druckerschwärze.

Der Surrealismus will mit der Vernunft brechen und zeigen, was sich hinter der rationalen Weltsicht verbirgt: Wünsche, Träume, Absurdes und Phantastisches. Kaum jemand verkörpert dies besser als Meret Oppenheim. Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Jacqueline Burckhardt bezeichnet Meret in ihrer Pariser Zeit als "wandelnde surrealistische Figur".

Ikone des Surrealismus und ein mit Marmor belegtes Brötchen

Eine Unterhaltung mit Pablo Picasso und Dora Maar im Café de Flore inspiriert Meret zu ihrem berühmtesten Werk – "Le déjeuner en furrure". Für die Surrealisten-Ausstellung in New York überzieht sie eine Porzellantasse mit Untertasse und Löffel mit feinem Gazellenfell. Das Stück wird vom Museum of Modern Art gekauft und die "Pelztasse" avanciert schnell zur Ikone des Surrealismus. Die Künstlerin selbst wird zunächst nicht wahrgenommen; in den USA denkt man sogar lange, bei Oppenheim handle es sich um einen Mann.

Ausstellung Duisburg, 1972
Abb. 2: Meret Oppenheim 1972 bei der Eröffnung ihrer Ausstellung in Duisburg mit der "Pelztasse" von 1936 (akg-images / Brigitte Hellgoth / © 2021, ProLitteris, Zurich).

Obwohl sie sich in Paris und New York als Künstlerin einen Namen macht, wird sie von vielen nur als Muse und Modell wahrgenommen. Die Pelztasse wird zudem erotisch konnotiert, was sie wundert. Als diese Zuschreibungen negative Auswirkungen auf ihre Kreativität haben, zieht sie drastische Konsequenzen: 1935 - nach etwa anderthalb Jahren - beendet sie eine intensive Affäre mit Max Ernst und kehrt nach Basel zurück. Ernst beschreibt sie später als "ein mit Marmor belegtes Brötchen". Oppenheims Krise ist eine persönliche, aber auch eine politische: die Zeichen des Krieges mehren sich und das Ende der künstlerischen Avantgarde durch den Nationalsozialismus kündigt sich an.

Ablehnung und Unverständnis – Versteinerung und Lähmung

Nach dem offenen Leben in Paris wirkt Basel auf sie beengend. Als alleinstehende Frau mit jüdischem Namen, die unter dubiosen Verhältnissen lebt und Kunst macht, die man kaum begreift, trifft sie auf Ablehnung. Zwei Jahre lang besucht sie die Kunstgewerbeschule. In dieser schwierigen Zeit schafft sie vieles, vernichtet aber auch vieles davon. An den wenigen Werken, die erhalten sind, ist eine Verhärtung und Lähmung ablesbar. Oppenheim malt Frauen aus Stein und Gürteltiere auf dem Rücken. Verbündete findet sie in der "Gruppe 33" und bei Freunden aus Jugendtagen wie Walter Kurt Wiemken oder Irène Zurkinden.

In Basel lebt und arbeitet sie zunächst im Haus ihrer Grossmutter im Klingental. Die Fasnacht ist in den Kriegsjahren für sie und ihre Künstlerfreunde eine wichtige Möglichkeit, Ängste und Protest auszudrücken. 1945 lernt sie den Kaufmann Wolfgang LaRoche kennen; sie heiraten 1949. Sie wohnt mit ihm zuerst am Rheinsprung, später in Schloss Angenstein bei Aesch, dann in Bern, in Thun und in Oberhofen am Thuner See.

Abb. 3: Meret Oppenheims Atelier befand sich bis 1949 oberhalb dieser Garage im Klingental (© 2021, Sophie Hüglin).
Abb. 4: Eine Gedenkplakette erinnert an Meret Oppenheims Basler Atelier im Klingental (© 2021, Sophie Hüglin).

Sich die Freiheit nehmen – Wünsche am Schwanz packen

1954, nach einer schlaflosen Nacht, ist ihre Krise plötzlich beendet. Sie mietet sich ein Atelier in Bern und löst sich aus zahlreichen Pflichten und Zwängen. In den folgenden Jahren wird Meret Oppenheim eine der treibenden Kräfte der Kunstszene in Bern. Sie schafft z.B. Kostüme und Masken für Daniel Spoerris Inszenierung von Picassos Theaterstück "Wie man Wünsche am Schwanz packt" oder organisiert Performances wie das notorisch bekannte "Frühlingsbankett", bei dem Häppchen auf einer nackten Frau angerichtet werden, um Fruchtbarkeit und Natur zu feiern. Sie arbeitet dabei über Material-, Methoden- und Stilgrenzen hinweg und entzieht sich der Zuordnung zu einer Kunstrichtung, auch der zum Surrealismus.

Geradezu als Kontrapunkt zum Überschwang des Banketts, aber auch als Gegensatz zur Pelztasse, präsentiert sie sich 1964 im "X-Ray – Selbstporträt" reduziert auf den knöchernen Kern. Dabei verwandelt sie Weiches und Warmes in Hartes und Totes, so wie sie zuvor der Tasse durch den Fellüberzug Leben und emotionale Qualitäten eingehaucht hat. Das Changieren zwischen Natur und Kultur und die Faszination an Verwandlungsprozessen zieht sich durch und zerreisst zugleich ihr Leben. Sie sagt von sich selbst: "Ja, ich habe Prinzipien, aber ich wechsele sie."

Abb. 5: Meret Oppenheim 1975 bei der Verleihung des Kunstpreises der Stadt Basel mir Regierungspräsident Eugen Keller (© Staatsarchiv Basel-Stadt).

Der weibliche Künstler – das lange Warten auf ein Echo

Inzwischen ist Meret Oppenheim eine etablierte Künstlerin: 1975 wird sie mit dem Kunstpreis der Stadt Basel ausgezeichnet und hält dabei eine vielbeachtete Rede. "Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen", ist wohl ihr meist zitierter Ausspruch. Mit Bezug auf den jungen und ganz besonders "den weiblichen Künstler" sagt sie: "Wenn einer eine eigene Sprache, neue Sprache spricht, die noch niemand versteht, dann muss er manchmal lange warten, bis er ein Echo vernimmt." 1982 erhält sie dann auch den Grossen Preis der Stadt Berlin.

Im Alter von 72 Jahren, am 15. November 1985, stirbt Meret Oppenheim in Basel, am Tag der Vernissage ihres Buches "Caroline". Sie wird in Carona im Familiengrab bestattet. Ein Drittel ihrer Werke geht ihrem letzten Willen gemäss als Legat an das Kunstmuseum Bern. 2013, zu ihrem 100. Geburtstag finden in der Schweiz, in Deutschland, Österreich und auch ausserhalb Europas Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen statt.

Meret Oppenheims Themen und Konflikte sind noch immer hochaktuell. Sei es bei Fragen um Gender, Identität und die Rolle von Frauen in Kunst und Gesellschaft. In Oppenheims Werken konkretisieren sich abstrakte Konzepte, die uns heute unter anderem auch im Neuen Materialismus, als Prozessualität, Metamorphose, Emotion, Körperlichkeit, Verfremdung, Ambiguität und Transdisziplinarität beschäftigen.

Strassenschild Meret Oppenheim-Strasse
Abb. 6: Hinter dem Bahnhof SBB: das doppelte Strassenschild der Meret Oppenheim-Strasse. Gestaltet vom Basler Künstler Peter Suter zum Anlass "100 Jahre Meret Oppenheim in Basel" am 22. April 2014 (© KEYSTONE/Georgios Kefalas).
Meret Oppenheim Brunnen
Abb. 7: Der Meret-Oppenheim-Brunnen mit der Skulptur "La Spirale" vor dem Meret Oppenheim Hochhaus (MOH) der Architekten Herzog & De Meuron beim Bahnhof SBB in Basel, eingeweiht 2019 (© 2019, Lisa Wenger).

Quellen

Literatur

Simon Baur & Christoph Fluri (Hg.) Meret Oppenheim – Eine Einführung. Christoph Merian Verlag: Basel 2013.

Dankesrede von Meret Oppenheim anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Stadt Basel: http://www.meret-oppenheim.de/kunstpreis.htm

Eine Pelztasse als Symbol des Surrealismus. Die Schweizer Kuratorin Bice Curiger im Gespräch mit Britta Bürger 15.08.2013: https://www.deutschlandfunkkultur.de/eine-pelztasse-als-symbol-des-surrealismus.954.de.html?dram:article_id=257975

Meret Oppenheim – die geborene Surrealistin. David Eugster, swissinfo, 13.November 2018: https://www.swissinfo.ch/ger/schweiz_meret-oppenheim---die-geborene-surrealistin/44494850

Meret Oppenheim – Eine Surrealistin auf eigenen Wegen. ARTE Dokumentation 2017:

https://www.youtube.com/watch?v=nBK-a9TaRis

Meret Oppenheim – Leben und Werk (Förderverein Meret Oppenheim, Steinen, Deutschland) http://www.meret-oppenheim.de/index.htm

Shira Wolfe, Female Iconoclasts: Meret Oppenheim https://magazine.artland.com/female-iconoclasts-meret-oppenheim/

Sophie Hüglin, Petrification – a concrete concept for past process comparison. In: Hüglin, S., Gramsch A. & L. Seppänen (Eds.), Petrification Processes in Matter and Society. Themes in Contemporary Archaeology. Springer: Heidelberg 2021.

Abb. 1: Votivbild (Würgeengel), akg-images / Meret Oppenheim / © 2021, ProLitteris, Zurich.

Abb. 2: Meret Oppenheim Duisburg 1975 / Foto, akg-images / Brigitte Hellgoth / © 2021, ProLitteris, Zurich.

Abb. 3: Ehemaliges Atelier Meret Oppenheim im Klingental, Basel, Sophie Hüglin, 2021.

Abb. 4: Gedenkplakette Meret Oppenheim, Basel, Sophie Hüglin, 2021.

Abb. 5: Oppenheim, Meret, Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 2-1337 1, Archiv Hans Bertolf.

Abb. 6: Schweiz Basel Meret Oppenheim-Strasse, KEYSTONE/Georgios Kefalas.

Abb. 7: Meret Oppenheim Brunnen "La Spirale", Lisa Wenger, 2019.

Autorin

Sophie Hüglin ist Archäologin und Co-Autorin von Band 1 und 2 der neuen Basler Stadtgeschichte. Für Stadt.Geschichte.Basel verfasst sie auch Beiträge für andere Epochen. Für die Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt hat sie von 2002 bis 2014 zahlreiche Grabungen geleitet. Sie forscht und lehrt in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Grossbritannien. Mit Meret Oppenheim verbindet sie das Interesse an materiellen, kulturellen, ideellen und persönlichen Transformationsprozessen.

50 Jahre Frauenstimmrecht

Das Stickeralbum "Starke Frauen in der Basler Geschichte"
Das Stickeralbum "Starke Frauen in der Basler Geschichte".

Am 7. Februar 1971 erhielten die Schweizer Frauen das Stimmrecht auf nationaler Ebene. Zum Jubiläum veröffentlicht Stadt.Geschichte.Basel die Beitragsreihe "Starke Frauen in der Basler Geschichte". Wir berichten von Frauen, die wahrscheinlich wenige kennen, die aber ihre Spuren in der Stadtgeschichte hinterlassen haben: in Archiven, in Bibliotheken, auf Bildern, in Erzählungen, mit ihren Werken und ihrem Wirken, von der Antike bis in die Gegenwart. Weitere Porträts gibt es im gleichnamigen Stickeralbum, das Stadt.Geschichte.Basel zusammen mit dem Staatsarchiv Basel-Stadt veröffentlicht hat.