Ludwig Sieber – ein vergessener «Baslerbebbi»

Text: Daniel Kriemler

Ludwig Sieber (1833-1891) schaffte den Sprung vom Neubürger in das Basler Bürgertum. Mit Sachverstand und Weitsicht begründete er die Universitätsbibliothek Basel und initiierte das noch heute bestehende Bibliotheksgebäude beim Bernoullianum.
Auf Du mit der Basler Notabilität bekleidete er eine Reihe prestigeträchtiger öffentlicher Ämter und prägte im Schulterschluss mit den grossen Gelehrten die Basler Bildungslandschaft des 19. Jahrhunderts - und ging dann vergessen.

Der "Kasper vo Binze"

1874 erschien in Basel der "Kasper vo Binze", eine kurze auf "Baseldytsch" verfasste Erzählung unter der Autorschaft eines "Baslerbebbi". Die Geschichte handelt von einem schlauen Jäger namens Kasper, der den Tod zu Basel übers Ohr haut und ihm ein paar weitere Jährchen abknöpft. Den Frevel bemerkt, zeigt der Tod dem Kasper seine Angehörigen im Paradies, woraufhin dieser dortbleiben möchte. Gevatter Tod hat seinen Job erledigt.

Das "Gschichtli" verliert seinen naiven Charakter, wenn man sein Erscheinungsjahr beachtet: Es wurde in dem Jahr geschrieben, als in Basel der sogenannte Kulturkampf seinen Höhepunkt erreichte. Die Beziehung zwischen Kirche und Staat wurde neu geordnet und der Autor ins Kirchenparlament gewählt. Als Angehöriger der Vermittlerpartei stand er zwischen den Extremen, gab aber mit seiner religiös aufgeladenen Geschichte ein Votum für die Traditionen ab. Wer aber war es, der sich hier als "Baslerbebbi" – den wahren Basler – ausgab? Es war Ludwig Sieber (1833-1891), der Sohn eines zugewanderten und eingebürgerten deutschen Wirts.

Ludwig Sieber
Abb. 1: Ludwig Sieber im Jahr 1885 (© Universitätsbibliothek Basel).

Ankunft im Bürgertum

Ludwig Sieber schaffte den Karrieresprung zum Akademiker und besiegelte seine Integration in das Basler Bürgertum, indem er eine "Altbaslerin" heiratete. Im bürgerlichen Vereinswesen gelangte er zu höchsten Ehren und wurde als erster Neubürger Präsident der Lesegesellschaft und später auch der Gemeinnützigen Gesellschaft. An seinem Wertehimmel leuchteten die Leitsterne "Gemeinsinn" und "Liebe zur Vaterstadt" – was sich in einer Reihe öffentlicher Ämter niederschlug – sowie "Freundschaft" und "Geselligkeit" – verstanden als verbindende Prinzipien Gleichgesinnter.

Die Gestirne führten ihn nicht nur zur Bekanntschaft mit Jacob Burckhardt (1818-1897), sondern auch in einen informellen Zirkel namens "Leimsutt". Zu diesem bildungsbürgerlichen Kreis gehörte die Basler Notabilität. Man traf sich bei Bier und Tabak, um Aktualitäten zu besprechen, zu singen oder Schnitzelbänke zu dichten. Hier wurde "der Leim gesiedet", um soziale, kulturelle und politische Strukturen zu schaffen und zu festigen.

Miniaturbild Arnold Böcklin "Dr. Ludwig Sieber (gern gesehen im Kreise junger Damen), um 1869
Abb. 2: "Dr. Ludwig Sieber (gern gesehen im Kreise junger Damen)". Der Maler Arnold Böcklin (1827-1901) zeichnete das Miniaturbild als Teil des "Schnitzelbank-Zyklus" um 1869 (© Kunstmuseum Basel).

Ein moderner Bibliothekar

Siebers Hauptleistung aber lag im Bildungswesen und hier vor allem in seiner Funktion als Bibliothekar der "Öffentlichen Bibliothek". Dieses Bücherkabinett war – wie damals viele andere Sammlungen in Basel – an das Historische Museum angeschlossen und diente auch der hiesigen Universität als Bibliothek. Mit der Trennung der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft 1833 stand die Universität eine Zeit lang auf wackeligen Beinen, bis man 1866 entschied, sie zu einem zeitgemässen Institut auszubauen.

Für Sieber brach eine neue Zeit an. Denn die mit Kunst- und Naturalienkabinetten verwobene und unter Platzmangel leidende Büchersammlung taugte nicht dazu, die steigende Zahl der Studierenden und Dozierenden ausreichend mit wissenschaftlicher Literatur zu versorgen. Sieber begann, das Bücherkabinett von nicht-literarischen Objekten zu entflechten, reorganisierte die Kataloge nach dem Vorbild der damals modernsten Bibliotheken, vereinfachte den Zugriff auf die Bestände, trieb die Ablösung vom Historischen Museum voran und gab die entscheidenden Impulse für den 1896 fertig gestellten Bibliotheksneubau beim Bernoullianum. Unter Ludwig Sieber wurde das einstige Bücherkabinett zur heutigen Universitätsbibliothek mit Ludwig Sieber als deren Oberbibliothekar. Die Universitätsbibliothek profitierte im hohen Mass von Siebers lokalem Netzwerk, übergaben ihr doch viele Private, Vereine und staatliche Institute ihre Sammlungen. Hinzu kamen manche Legate.

Intensiv engagierte sich Ludwig Sieber auch für die Historische Gesellschaft und die Antiquarische Gesellschaft, die er zur heutigen HAG fusionierte. Als deren Mitpräsident warb er gebildete Neubürger und Zugezogene als Mitglieder an, was der Gesellschaft Prestige und starken Zuwachs brachte.

Alte Universitätsbibliothek
Die Alte Universitätsbibliothek im Jahr 1929 vom Botanischen Garten her gesehen (© Staatsarchiv Basel-Stadt).
Alte Universitätsbibliothek
Die Alte Universitätsbibliothek im Jahr 2014 vom Botanischen Garten her gesehen (© stohler-fotos.ch).

Vergessen?

Posthum ehrte man Ludwig Sieber hoch. Zu seinem Andenken wurde eine Stiftung gegründet – ein Akt, den man in Basel zuvor nur für Bildungsmagnaten wie Wilhelm Wackernagel (1806-1869) oder Peter Merian (1795-1883) vollzogen hatte. Siebers Biographie kam in die "Allgemeine Deutsche Biographie" zu stehen. Professor Albert Burckhardt (1854-1911) prophezeite ihm einen Ehrenplatz in der Basler Gelehrtengeschichte des 19. Jahrhunderts, sollte eine solche geschrieben werden, und wenn die HAG künftig Beachtung finde – so Burckhardt – sei dies allein Siebers Verdienst.

Ein halbes Jahrhundert später war es Eduard His (1886-1948), Geschichtsprofessor und Basler Altbürger, der ebendiese Geschichte zu "Basler Gelehrte des 19. Jahrhunderts" schreiben sollte wie auch die "Geschichte der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel im ersten Jahrhundert ihres Bestehens". In ersterer findet Sieber in zwei Nebensätzen Erwähnung. In letzterer schrumpft er neben seinem Mitpräsidenten, der mit den Worten von His "von anderer, typisch altbaslerischer Art" war, auf ein "erfrischendes Element" zusammen. War Ludwig Sieber, der neubürgerliche "Baslerbebbi", letztlich doch zu wenig wahrer Basler, um als Repräsentant der Lokalgeschichte zu gelten?

Quellen

Titelbild: Porträt Ludwig Sieber, 1892: Zentralbibliothek Zürich, Sieber, Ludwig I, 1 oben.

Abb. 1: Ludwig Sieber, 1885: Universitätsbibliothek Basel, Höflinger Photoatelier, UBH Portr BS Sieber L 1833, 4.

Abb. 2: "Dr. Ludwig Sieber (gern gesehen im Kreise junger Damen)": Arnold Böcklin, um 1869, Kunstmuseum Basel - Jonas Haenggi.

Abb. 3: Alte Universitätsbibliothek, 1929: Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD 32, 148.

Abb. 4: Alte Universitätsbibliothek, 2014: Dominik Stohler, stohler-fotos.ch.

Autor

Daniel Kriemler war wissenschaftlicher Assistent am Pharmaziemuseum der Universität Basel und promovierte am Departement Geschichte der Universität Basel. Heute ist er als Lehrer und freischaffender Historiker tätig. Er ist Mitglied des Vereins Basler Geschichte.