"Eine Neuorientierung der Geschlechterverhältnisse" - Familienexterne Kinderbetreuung als gleichstellungspolitisches Anliegen

Text: Anina Zahn

Um 1970 waren familienexterne Betreuungsangebote nur für Kinder jener Mütter gedacht, die keine andere Wahl hatten, als erwerbstätig zu sein. Auf keinen Fall sollten Kinderkrippen und Tagesheime das traditionelle Familienmodell ins Wanken bringen. Doch Frauen forderten von nun an hartnäckig mehr Betreuungsplätze ein. Auch sie wollten die Möglichkeit haben, ihren Beruf auszuüben – ungeachtet ihrer Lebenssituation.
Erst in den 1990er Jahren erhörte sie der Kanton Basel-Stadt und sicherte Eltern über die Verfassung einen Betreuungsplatz.

Eine Initiative für Tagesschulen

1972 lancierte die Vereinigung für Frauenrechte Basel eine Initiative für Tagesschulen [Beitrag SRF Antenne vom 1. Februar 1973]. In den Jahren zuvor hatte sie als Vereinigung für Frauenstimmrecht Basel auf den Strassen für das Frauenstimmrecht gekämpft. 1971 war dieses wichtige Ziel erreicht. Nun nahm sich die Vereinigung – neu als Vereinigung für Frauenrechte – anderen Problemen an: Der Kinderbetreuung von berufstätigen Müttern.

Abb. 1: Laut einem SRF-Beitrag vom 1. Februar 1973 zur Tagesschul-Initiative verkommt das Mittagessen ohne Ehemann zum lieblosen Sandwich-Imbiss [Link zum Video siehe oben im Text].

Der Blick ins Ausland zeigte, dass durchaus gute Betreuungsmöglichkeiten existierten, wie sich Ursula Nakamura, Mitglied und spätere Präsidentin, jüngst in der Festschrift von frauenrechte beider basel erinnerte: "Ich komme 1972 mit meiner Familie von Japan in die Schweiz und hoffe auf gute Kindertagesstätten und Tagesschulen, wie ich dies früher in den USA gesehen habe, realisiere jedoch, dass dies hier leider noch kaum verwirklicht ist."

Die Initiantinnen betonten den pädagogischen Wert der Tagesschulen. Zudem würden sie Kinder und Familien von Schul- und Arbeitswegen entlasten und Müttern eine berufliche Tätigkeit ermöglichen. Diese waren nämlich für die Kinderbetreuung und den Haushalt zuständig – obwohl bereits die Hälfte der Basler Frauen erwerbstätig war.

Der Regierungsrat konnte mit der Initiative gar nichts anfangen, er stufte sie gar als gefährlich ein. Er warnte davor, familiäre Aufgaben, ein "bisher mit oder ohne Vater privat gelöstes Problem", an den Staat zu übertragen. Krippen oder Tagesheime seien durchaus sinnvoll, wenn sie "Notlagen bestimmter Bevölkerungsgruppen" beheben würden. Die Tagesschule hingegen strebe "eine gesellschaftliche Neuorientierung im Verhältnis zwischen den Geschlechtern" an.

Nachdem sich auch der Grosse Rat 1975 klar gegen die Initiative ausgesprochen hatte, zog die Vereinigung für Frauenrechte ihre Initiative zurück. Erst über ein Jahrzehnt später revidierte der Regierungsrat seine Meinung und bewilligte Ende der 1980er Jahre die erste Tagesschule, in den 1990er Jahren folgte die zweite.

Abb. 2: Mittagstisch im Tagesheim des Frauenvereins am Heuberg, 1967 (© Staatsarchiv Basel-Stadt).

Kinderkrippen und Tagesheime: Eine Notlösung

Die Antwort des Regierungsrates entsprach einer damals weitverbreiteten Vorstellung: Institutionelle Kinderbetreuung könne die liebevolle mütterliche Aufopferung nie ersetzen. Zwar gab es bereits viele Angebote: Um 1970 subventionierte der Kantone bereits 30 Kinderkrippen und Tagesheime, in denen 1500 Kinder im Vorschulalter betreut werden konnten.

Der grösste Anbieter war der Frauenverein am Heuberg, heute familea. Der Frauenverein wählte die Kinder sorgfältig aus, wie Schwester Vreni Stüssi in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens bestätigte [Beitrag SRF Antenne vom 11. November 1971]: "Wir rechnen damit, dass wir ungefähr jedes vierte Kind aufnehmen können. Ganz unglücklich darüber sind wir aber nicht, weil ein Heim immer eine Notlösung ist. (…) Erstens können wir nur Kinder aufnehmen, die im Kanton Basel-Stadt wohnen, von Frauen, die alleinstehend sind, eventuell Gastarbeiterkinder (…). Wir müssen also abklären, ob es notwendig ist, dass die Frau arbeiten gehen muss."

Krippen und Tagesheime waren nur für Kinder derjenigen Mütter, die sich nicht wie vorgesehen rund um die Uhr um ihre Kinder kümmern konnten: Alleinerziehende, Ausländerinnen, Arme.

Antenne, SRF, 1971
Abb. 3: "Ein Heim ist immer eine Notlösung" - Schwester Vreni Stüssi in einem SRF-Beitrag vom 11. November 1971 zu Basler Tagesheimen [Link zum Video siehe oben im Text].

"Kinder brauchen Kinder" – Die familienexterne Kinderbetreuung verliert ihren schlechten Ruf

Allmählich setzte sich ein anderes Bild von Krippen, Tagesheimen und Horten durch. Nicht nur Frauenorganisationen, sondern auch Politikerinnen forderten vehement mehr Betreuungsplätze. Bereits 1969 hatten bürgerliche und linke Grossrätinnen ungeachtet ihrer Parteigrenzen mehr Krippen verlangt. Aber die Angebote vermehrten sich nur langsam und die Aufnahmekriterien waren nach wie vor streng.

Abb. 4: Kinder beim Spiel in der Krippe Lehenmatt, 1973 (© Staatsarchiv Basel-Stadt).

Erwerbstätige Eltern antworteten deshalb mit Selbsthilfe. Organisationen von italienischen Migrantinnen und Migranten wie die Missione Cattolica Italiana (MCI) bauten in den 1960er Jahren selbst Betreuungsangebote wie Krippen und Tagesschulen auf. Schliesslich mussten Saisonarbeiterinnen oder Jahresaufenthalterinnen arbeiten, um in Basel bleiben zu können. Auch im Nachgang der 68er-Bewegung gründeten Studierende und junge Eltern eigene Krippen mit neuen Erziehungsgrundsätzen und mehr Elternbeteiligung. Und erwerbstätige Mütter beschlossen 1978, einen Tagesmütterverein aufzubauen. Für viele Mütter war dieses Angebot besonders attraktiv, konnten Tagesmütter doch eine intensive Betreuung gewährleisten.

Die Entwicklungen erfassten auch die bestehenden Kinderkrippen und Tagesheime, die ihre pädagogischen Konzepte allmählich ausbauten. Langsam setzte sich die Vorstellung durch, dass die Kinder ganz gut ausser Haus betreut würden, und es gar förderlich für sie sei. Oder wie es die Nach-68er Partei Progressive Organisationen Basel (POB) 1984 in ihrer Abstimmungskampagne für mehr Kindertagesstätten, die sie haushoch verlor, auf den Punkt brachte: "Kinder brauchen Kinder".

Tagesbetreuung wird ein Recht

Mit dem ersten Frauenstreik 1991 erhielten gleichstellungspolitische Anliegen neuen Schwung. Frauen eroberten sich höhere berufliche und politische Positionen. Und auch Unternehmen wollten nicht länger auf gut ausgebildete Frauen verzichten. Gleiche Chancen im Beruf bedingten jedoch endlich einen Ausbau der Tagesbetreuung. Die sich häufenden Meldungen über lange Wartelisten machten das Anliegen umso dringlicher.

Grossrätinnen jeglicher Parteien reichten nun Anzüge ein und forderten öffentlich einen Ausbau ein. Doch erst die 1996 unter dem Lead des Tagesmüttervereins eingereichte Initiative zur Kinderbetreuung brachte den Durchbruch. Eine grossrätliche Kommission erarbeitete nun das erste Tagesbetreuungsgesetz. 2004 trat es in Kraft und sicherte Eltern ein ausreichendes Angebot zu – auch für Kinder von Eltern, die "ohne finanzielle Not arbeiten wollen". Die neue Verfassung von 2005 krönte die Entwicklung, indem sie Eltern das Recht zusprach, eine Tagesbetreuungsmöglichkeit in Anspruch zu nehmen, die an den Bedürfnissen der Kinder orientiert ist. Bis heute ist der Kanton Basel-Stadt der einzige Kanton in der Schweiz, der ein verfassungsmässiges Recht auf eine Tagesbetreuung kennt.

In der Folge wuchs das Angebot rasant an: Von 2006 bis 2016 verdoppelte es sich nahezu und umfasste nun 3900 Betreuungsplätze. Hohe Elternbeiträge, die fehlende Wahlfreiheit in subventionierten Kitas und unübersichtliche kantonale Unterstützungsbeiträge sorgten jedoch wiederholt für Verwirrung und Diskussionen. Deshalb stimmte der Grosse Rat 2019 der Totalrevision des Tagesbetreuungsgesetzes zu.

Abb. 5: Kinder brauchen Kinder – Abstimmungsplakat für mehr Kindertagesstätten der Progressiven Organisationen Basel (POB) im Jahr 1984 (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel / Gestaltung Oliver Vischer, 1984).

Quellen

Literatur

Francesca Falk: Gender innovation and migration in Switzerland, Cham 2019.

frauenrechte beider basel: 100 Jahre Frauen in Bewegung, Festschrift, Basel 2016.

Verein Kinderkrippen Bläsistift (Hg.): 150 Jahre Kinderkrippen Bläsistift – die älteste Kita der Schweiz, Basel 2021.

Anneliese Villard-Traber: Weit gebracht? Eine Chronik aus Basel über den langen Weg zur Gleichberechtigung, 1916-1991, Basel 1992.

Amtliche Dokumente

Bericht des Regierungsrates zum Initiativbegehren betreffend Einführung der Tagesschulen vom 8. März 1973 und zum Anzug H.R. Stettler und Konsorten betreffend Ganztagesschulen vom 9. März 1972, dem Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt vorgelegt am 13. Februar 1975.

Bericht der Bildungs- und Kulturkommission des Grossen Rates zum Ratschlag und Entwurf zu einem Gesetz betreffend die Tagesbetreuung von Kindern sowie Bericht des Regierungsrates zu zwölf Anzügen, einer Petition und einer Initiative vom 18. August 2003.

Bericht der Bildungs- und Kulturkommission zum Ratschlag Totalrevision des Gesetzes betreffend Tagesbetreuung von Kindern (Tagesbetreuungsgesetz, TBG). Den Mitgliedern des Grossen Rates des Kantons Basel-Stadt zugestellt am 22. März 2019.

Verfassung des Kantons Basel-Stadt vom 23.3.2005, aktuelle Version online abrufbar: https://www.gesetzessammlung.bs.ch/app/de/texts_of_law/111.100

Abb. 1: Standbild SRF-Beitrag "Einreichung Initiative der Vereinigung für Frauenrechte für Tagesschule", "Antenne" vom 1. Februar 1973.

Abb. 2: Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-3358 1_b, Archiv Hans Bertolf.

Abb. 3: Standbild SRF-Beitrag "Einreichung Initiative der Vereinigung für Frauenrechte für Tagesschule", "Antenne" vom 11. November 1971.

Abb. 4: Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-6013_0001_b, Archiv Hans Bertolf.

Abb. 5: Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, CH-000957-X 36671 / Gestaltung Oliver Vischer, 1984).

Antenne, SRF: Kinderkrippe Basel, 11.11.1971, online abrufbar [zuletzt abgerufen 15.06.2021].

Antenne, SRF: Zur Forderung einer Tagesschule in Basel, 01.02.1973, online abrufbar [zuletzt abgerufen 15.06.2021].

Autorin

Anina Zahn wurde als Kind von einer grossartigen Tagesmutter betreut. Später studierte sie Geschichte und Philosophie und forschte zur Geschichte der Arbeitslosigkeit. Sie ist Mitarbeiterin von Band 8 der Stadtgeschichte Basel.

50 Jahre Frauenstimmrecht

Das Stickeralbum "Starke Frauen in der Basler Geschichte"
Das Stickeralbum "Starke Frauen in der Basler Geschichte".

Am 7. Februar 1971 erhielten die Schweizer Frauen das Stimmrecht auf nationaler Ebene. Zum Jubiläum veröffentlicht Stadt.Geschichte.Basel die Beitragsreihe "Starke Frauen in der Basler Geschichte". Wir berichten von Frauen, die wahrscheinlich wenige kennen, die aber ihre Spuren in der Stadtgeschichte hinterlassen haben: in Archiven, in Bibliotheken, auf Bildern, in Erzählungen, mit ihren Werken und ihrem Wirken, von der Antike bis in die Gegenwart. Weitere Porträts gibt es im gleichnamigen Stickeralbum, das Stadt.Geschichte.Basel zusammen mit dem Staatsarchiv Basel-Stadt veröffentlicht hat.