Schizophrenie im Spinnennetz - Die Basler Suche nach der Substanz X

Text: Daniel Suter

Die Entdeckung von LSD beflügelte die medizinisch-psychiatrische Forschung. Dass LSD schon in kleinsten Mengen eine grosse Wirkung im menschlichen Körper entfaltet, nährte die These, dass Psychosen aufgrund von Stoffwechselstörungen durch eine körpereigene Substanz entständen. Doch was für eine Substanz konnte das sein? Diese Frage beschäftigte Mitte der 1950er-Jahre den Basler Biologen H. P. Rieder. Die Antwort suchte er in einem heute etwas skurril wirkenden Experiment: Dem "Basler Spinnentest".

Was verursacht Psychosen?

LSD hat heute einen zweifelhaften Ruf als Partydroge. Doch als Albert Hoffmann 1943 bei der Sandoz AG die halluzinogene Wirkung des Stoffes entdeckte, sah er darin vor allem das grosse Potential für die medizinisch-psychiatrische Forschung. Ab 1949 stellte Sandoz Forschungsinstitutionen und Ärzten LSD unter dem Namen Delysid als Versuchspräparat zur Verfügung. Da LSD-Räusche gewisse Ähnlichkeiten mit Psychosen aufwiesen, erhoffte man sich, durch sogenannte "Modell-Psychosen" Erkenntnisse über diese Störung zu gewinnen. Die Tatsache, dass LSD in kleinsten Mengen schon eine grosse Wirkung im Menschen entfaltete, gab zudem der Vorstellung auftrieb, dass möglicherweise Psychosen aufgrund von Stoffwechselstörungen durch eine körpereigene Substanz erzeugt wurden. Doch was für eine Substanz konnte das sein?

Die Suche nach der Substanz X

Die damaligen Analysetechniken kamen bei der Suche nach dieser ominösen Substanz X an ihre Grenzen. Es wurde daher auf überraschende Methoden zurückgegriffen. Eine davon war der sogenannte Spinnentest. Der Biologe Peter N. Witt hatte bei Versuchen festgestellt, dass Spinnen ihre Netze anders bauten, wenn sie Substanzen zu sich nahmen, die spezifisch auf das zentrale Nervensystem einwirken. Spinnen unter LSD-Einfluss bauten andere Netze als sonst üblich. LSD-Netze unterschieden sich aber auch von Koffein- oder Amphetaminnetzen. Mit Hilfe der Spinnen begann Witt nun in den Körperflüssigkeiten von psychotischen Patienten nach der Substanz X zu suchen.

Der Basler Spinnentest

An einer solchen Studie beteiligten sich Mitte der 1950er-Jahre auch die Neurologische Universitätspoliklinik und die Psychiatrische Universitätsklinik in Basel. Der Biologe H. P. Rieder wollte dabei drei Fragen nachgehen: Unterscheidet sich der Urin von Kranken und Gesunden in seiner Wirkung auf Spinnen? Gibt es Parallelen zwischen den Netzen, die unter Einfluss von Urin von Kranken, und Netzen, die unter Drogeneinfluss entstanden sind? Ergibt sich allenfalls daraus ein Weg zur Identifikation der Substanz, die Psychosen auslöst?

Dafür wurden von Patienten mit einer diagnostizierten Schizophrenie und von Pflegern – als Vergleichsgruppe der "Normalen" – insgesamt mehrere hundert Liter Urin gesammelt. Mit verschiedenen chemischen Verfahren stellte man danach aus dem Urin diverse Extrakte her, die anschliessend im Forschungslaboratorium – mit Zuckerwasser vermischt – den Spinnen verfüttert wurden. Die Ergebnisse publizierte Rieder im November 1957 in der Zeitschrift "Psychiatria et Neurologia".

Er kam dabei zu keinem eindeutigen Schluss – auch wenn gewisse Veränderungen im Netzbau sichtbar wurden. Eine Ähnlichkeit mit Netzen, die unter Einfluss bekannter psychoaktiver Substanzen wie LSD oder Meskalin entstanden sind, konnte er nicht feststellen.

Urinflasche Inv. 2018.520
Urinflasche aus der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel (© Historisches Museum Basel).

Pionierrolle der Basler Firmen

Die Spinnentests erwiesen sich als Sackgasse. Aber sie zeugen vom damaligen Wunsch, objektiv messbare und wiederholbare Verfahren für die Psychiatrie zu entwickeln, um so eine engere Anbindung an die Naturwissenschaften und die Medizin zu ermöglichen. Auch wenn im selben Zeitraum bereits erste Neurotransmitter bekannt waren, wurde ihre Bedeutung für das Gehirn erst später erkannt.

Die Basler Untersuchung zeigt auch die enge Kooperation von chemisch-pharmazeutischen Firmen, Universitäten und Kliniken. So stellte die Firma Sandoz aus den grossen Mengen Urin die verschiedenen Test-Extrakte her. Den wichtigsten finanziellen Beitrag leistete der E. Barell-Fonds der Firma F. Hoffmann-La Roche. Die Basler Firmen versuchten, in diesem neuen und vielversprechenden Feld der Psychopharmakologie eine Pionierrolle zu spielen. Auf völlig anderen Wegen als mit Spinnentests gelang ihnen das auch.

1958 kamen die weltweit ersten Antidepressiva von Geigy (Tofranil) und Roche (Marsilid) auf den Markt. Roche entwickelte zudem kurze Zeit später mit Librium (1960) und Valium (1963) zwei geschichtsträchtige Blockbuster im Bereich der Beruhigungsmittel.

Nachtrag

Der Verzicht auf ähnliche Versuche in Basel dürfte nicht nur von den Patienten und Pflegern, sondern auch von den Spinnen begrüsst worden sein. Denn Rieder bemerkte in seinem Aufsatz in Bezug auf ein bestimmtes Extrakt: "Nach kurzem Trinken zeigten die Spinnen eine ausgesprochene Abscheu vor weiterer Berührung mit dieser Lösung; sie verlassen das Netz, streichen die restlichen Tropfen am Holzrahmen ab, kehren erst nach ausgiebiger Säuberungen ihrer Fühler und Mundpartien wieder ins Netz zurück und sind kaum mehr zu weiterer Annahme eines neuen Tropfens zu bewegen".

Quellen

Rieder, H. P.: Biologische Toxitätsprüfung pathologischer Körperflüssigkeiten. Prüfung von Urinextrakten Geisteskranker mit Hilfe des Spinnentestes, in: Psychiatria et Neurologia. Internationale Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Vol. 134, No. 5, Basel 1957.

Tornay, Magaly: Zugriffe auf das Ich. Psychoaktive Stoffe und Personenkonzepte in der Schweiz 1945 bis 1980, (Historische Wissensforschung 4), Tübingen 2016.

Schneider, Reto U.: Das Buch der verrückten Experimente, München 2006.

Abb. 1 (Urinflasche): Historisches Museum Basel, Erste Hälfte 20. Jahrhundert, Inv. 2018.520.

Autor

Daniel Suter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Bibliothekar am Historischen Museum Basel (HMB). Er ist Mitglied des Vereins Basler Geschichte.