1000 Jahre -
10 Geschichten

Offene Türen für den Frieden, Turner und Touristen

Text: Isabel Koellreuter und Franziska Schürch

Mit roten Fahnen und Fanfaren traten die Demonstrantinnen und Demonstranten am 24. November 1912 ins Münster, um den internationalen Frieden zu beschwören. Erstaunlich, dass der sakrale Raum einem derart politischen Ereignis Bühne sein konnte. Schon zuvor allerdings diente das Wahrzeichen Basels auch anderweitigen Nutzungen ausserhalb der Liturgie: Zum Beispiel als Forum für die städtische Öffentlichkeit, als Turnhalle und als Touristenmagnet.

Glocken für den Frieden

Als am 24. November 1912 der mächtige Demonstrationszug in die Rittergasse einbog, begannen die Glocken des Münsters zu läuten. Tausende Lichter erhellten den Raum vom hohen Kranzgesimse aus, als rund 5'000 Gäste zum Orgelklang von Beethovens "Dona nobis Pacem" ihre Plätze bezogen. Nacheinander stiegen die Repräsentanten des europäischen Sozialismus auf die Kanzel und beschworen den Willen zur Erhaltung des Friedens.

Dass der eigentliche Festakt des "Friedenskongress der Sozialistischen Internationale" in einem kirchlichen Raum, gar im altehrwürdigen Münster, stattfinden konnte, sorgte bei den Zeitgenossen für Verwunderung. Diese Verwunderung ist Ausgangspunkt unserer kleinen Münster-Erkundungstour: War es denn tatsächlich so erstaunlich, dass das Münster 1912 seine Tore für die wichtigsten Exponenten und einige wenige Exponentinnen des internationalen Sozialismus öffnete?

Die Sozialistische Internationale auf dem Weg zum Münster
November 1912: Der Friedenskongress der Sozialistischen Internationale auf dem Weg zum Münster. Bild: Staatsarchiv Basel-Stadt

"Im Interesse des Friedens und des Evangeliums"

Erstaunlich war die Öffnung des Münsters für den Friedenskongress 1912 tatsächlich, wenn man sich vor Augen hält, dass bereits 1869, anlässlich des Kongresses der Ersten Internationale in Basel, ein Gesuch für die Nutzung des Münsters eingegangen war. Damals jedoch war das Gesuch abschlägig behandelt worden. Was war in der Zwischenzeit geschehen?

Basel war zur grössten Industriestadt der Schweiz geworden und entsprechend akzentuierten sich die sozialen Spannungen in der Bevölkerung. Innerhalb des schweizerischen Protestantismus entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den "religiös Sozialen" eine Bewegung, die für soziale Anliegen der Arbeiterschaft ein Sensorium entwickelte. Zu den wichtigsten Vordenkern und Exponenten dieser Richtung gehörte Leonhard Ragaz, der 1902 zum Münsterpfarrer ernannt worden war. Als das Gesuch für die Nutzung des Basler Münsters im November 1912 dem Vorstand der Münstergemeinde vorgelegt wurde, war Ragaz zwar nicht mehr in Basel. Dennoch wurde es einstimmig angenommen, "im Interesse des Friedens und des Evangeliums", wie ein Exponent dezidiert formulierte.

Mit der Öffnung des Münsters für die Arbeiterinternationale wurde ein Zeichen gesetzt für die Öffnung der Kirche, was sowohl im In- als auch im Ausland breit rezipiert wurde.

Karte zur Erinnerung an den Basler Friedenskongress der Sozialistischen Internationale 1912. Schweizerisches Sozialarchiv

Wichtige Staatsakte und Konzerte

Und dennoch bleibt die Frage: Wie einmalig war die Nutzung des Münsters ausserhalb der Liturgie? Inwiefern wurde das Münster schon vor 1912 durch die städtische Öffentlichkeit genutzt?

Ein Streifzug durch die Basler Chronik und die verschiedenen Stadtgeschichten belegt unseren Verdacht: Die ehemalige Bischofskirche war während des gesamten 19. Jahrhunderts ein zentraler Ort für die gesamte Stadt. So nutzte die Regierung das Münster für wichtige Staatsakte. Wo sonst hätte man 1812 die eidgenössische Tagsatzung feierlicher eröffnen können als im Münster? Und als 1849 das Museum an der Augustinergasse eröffnet werden konnte, feierte man dies ebenfalls im Münster. Jubiläen wie "500 Jahre Vereinigung von Klein- und Grossbasel", der 100. Todestag von Friedrich Schiller und das 400jährige Bestehen der Eidgenossenschaft wurden hier begangen. Und als am 14. Juni 1891 die Eisenbahnbrücke in Münchenstein einstürzte, fand für die aufgewühlte Öffentlichkeit am Abend des grossen Unglücks im Münster eine offizielle Trauerfeier statt. Das Münster wurde also als Ort für die städtische Öffentlichkeit genutzt.

Obwohl die Stadt am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Stadtcasino, der Safranzunft, der Burgvogtei und auch dem neu erbauten Gundeldinger Casino über ein paar stattliche Säle verfügte, gab es keinen annähernd grossen Raum mit einer guten Akustik wie das Münster. Entsprechend nutzten verschiedene Chöre das Münster auch gerne für Konzerte.

Turnen in der St. Niklaus Kapelle

Verblüfft hat uns bei unserer Recherche, dass 1825 die GGG "Commission zur Veranstaltung körperlicher Übungen für die Jugend" auf ihrer Suche nach einem Raum für Leibesertüchtigung während des Winters ebenfalls im Münster fündig wurde: Die Kirchenleitung unterstützte die Förderung des Turnens, jedoch weniger um des Sportes willen. Vielmehr war man der Meinung, dass das Turnen die Knaben von den verderblichen Folgen der sexuellen Befriedigung abhalte. Der Vorstand der Münstergemeinde stellte deshalb den jungen Turnern die St. Niklauskapelle gerne an zwei Abenden pro Woche zur Verfügung.

Victor Hugos Uhrschlüssel auf dem Turm

Mit dem Aufkommen des Reisens taucht das Münster auch in der zeitgenössischen Reiseliteratur auf. Mit seinen zwei schlanken Türmen, den roten Sandsteinmauern und dem bunten Dach wurde es jeweils als erste Sehenswürdigkeit auf dem Platz Basel beschrieben. Als Touristenmagnet erhielt das Münster eine weitere Funktion ausserhalb der Liturgie. Dass mehrere prominente Reisende wie Fjodor und Anna Dostojewski oder auch Victor Hugo bei ihren Streifzügen durch die Stadt das Münster besichtigten, vermag deshalb kaum zu erstaunen. Während Fjodor dem Wahrzeichnen Basels kaum etwas abgewinnen konnte, liess sich seine Frau von den Glasmalereien verzaubern. Victor Hugo blieb vor allem sein Aufstieg auf den zweiten Glockenturm in denkwürdiger Erinnerung: Seine Uhrenkette verhakte sich im Maul eines Wasserspeiers, sein Uhrschlüssel blieb in Basel zurück.

Autorinnen

Franziska Schürch studierte Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft und Musikwissenschaft. Es folgten Lehr- und Forschungsaufträge und die wissenschaftliche Leitung des Inventars des kulinarischen Erbes der Schweiz. Isabel Koellreuter studierte Geschichte, Kunstwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Seither war sie als freiberufliche Historikerin an der Ausarbeitung verschiedener Ausstellungen, Lehrgänge und Publikationen beteiligt.

In ihrem 2010 gegründeten Büro "Schürch & Koellreuter. Kulturwissenschaft und Geschichte" entstehen vielfältige Projekte zur Vermittlung von Geschichte und Kultur an ein breites Publikum. Und sie sind Autorinnen der Bände 6 und 7 der neuen Basler Stadtgeschichte.

Quellen

Ruedi Brassel: Der Kongress in der Kirche. In: Sandrine Mayoraz, Frithjof Benjamin Schenk, Ueli Mäder (Hrsg.), Hundert Jahre Basler Friedenskongress (1912-2012) (Basel/Zürich 2015) 24-32.

Stefan Hess: Historischer Überblick. In: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK (Hrsg.), Das Basler Münster. Die Kunstdenkmäler der Schweiz. Die Kunstdenkmäler des Kantons Basel-Stadt X (Bern 2019) 34-58.

Sara Janner: GGG 1777-1914. Basler Stadtgeschichte im Spiegel der "Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige". Neujahrsblatt Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel 193/194, 2015/16, 283-285.

Auszüge aus dem Tagebuch der Anna G. Dostojewskaja, 1867. In: Barbara Piatti: Von Casanova bis Churchill. Berühmte Reisende auf ihrem Weg durch die Schweiz (Baden 2016) 239-248.

Basler Stadtbuch, darin insbesondere die Stadtchronik (eingesehen am 10.11.2019).

Daniel Hagmann: Die Katastrophe von Münchenstein. Blog des Staatsarchivs Basel-Stadt. 13. Juni 2016 (eingesehen am 14.11.2019).

Victor Hugo: Album Phébus. Les voyages de Victor Hugo, illustrés par Phébus. Lausanne 1869. In: Maison de Victor Hugo, Hauteville House Paris (eingesehen am 13.11.2019).

Stefan Hess hat eine Liste der im Münster stattgefundenen Veranstaltungen für das 19. und das 20. Jahrhundert erstellt und sie uns verdankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

Abb. 1: Karte zur Erinnerung an den Basler Friedenskongress der Sozialistischen Internationale 1912. Schweizerisches Sozialarchiv F Ka-0001-116

Abb. 2: Friedenskongress der Sozialistischen Internationale. Staatsarchiv Basel-Stadt AL 45, 5-99-2