Meine italienische Mutter - eine Spurensuche

Text: Markus Locher

Meine Grosseltern stammten aus der Provinz Cremona in der italienischen Region Lombardei. Mit Ankunft meines Grossvaters im Jahr 1900 in Basel beginnt eine erfolgreiche Integrationsgeschichte über nur zwei Generationen. Wie ist dies gelungen? Die beeindruckende Publikation des Ostmitteleuropa-Historikers Philipp Ther "Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa" verhalf mir zum Verständnis meiner Familiengeschichte.

Integration in vier Schritten

2014 gedachte man europaweit des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Mit meiner Familiengeschichte beschäftigt, stellte ich mir die Frage, warum mein italienischer Grossvater – der Vater meiner Mutter – damals in Basel geblieben und nicht wie zigtausend andere Männer nach Italien zurückgekehrt war. Ich fragte mich, ob er wohl ein Refraktär gewesen sei, also einer, der den Dienst in der Armee verweigert hatte. Ich fand dafür keine Belege; wahrscheinlich wurde er nicht einberufen, weil er mit Jahrgang 1868 schon relativ alt war. Zudem hatten meine Grosseltern gerade erst geheiratet und waren kurz vor Kriegsausbruch Eltern geworden.

Meine Grosseltern stammten aus Roncadello in der Provinz Cremona. Mein Grossvater war mit 25 Jahren ausgewandert und gelangte – nach fünfjährigem Aufenthalt in La Chaux-de-Fonds – gegen Ende des Jahres 1900 nach Basel. Dort erhielt er sogleich die Niederlassungsbewilligung, wie es dem Abkommen zwischen Italien und der Schweiz von 1868 entsprach. Wie aber gelang die Integration?

Im Nachgang an das Jahr 2015, als das Thema Einwanderung omnipräsent war, und Flüchtlingsdramen wie die im türkischen Badeort Bodrum angeschwemmte Leiche eines Kleinkinds die Öffentlichkeit erschütterten, las ich die beeindruckende Publikation des Ostmitteleuropa-Historikers Philipp Ther "Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa". Sein Modell der vier Integrationsschritte verhalf mir zum Verständnis meiner Familiengeschichte.

Gleichstellung und Zugang zur Arbeitswelt

Mit der Niederlassungsbewilligung hatte mein Grossvater den ersten Schritt zur Integration geschafft: die rechtliche Gleichstellung mit Ausnahme der politischen Rechte. 1913 heiratete er in Casalmaggiore, einem kleinen Städtchen, zu dem sein Heimatdorf Roncadello gehörte, meine Grossmutter, die ihm wenig später nach Basel folgte.

Auch der zweite Schritt, der Zugang zur Arbeitswelt, gelang meinem Grossvater relativ rasch. Der Krieg bot Ausländer*innen gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil viele Schweizer Aktivdienst leisteten. 1917 wurde mein Grossvater vom Taglöhner zum Steinklopfer beim Basler Baudepartement; meine Grossmutter arbeitete als Büglerin.

Italiener-Heimreise, 1970
Heimreise italienischer Gastarbeiter am 17. Dezember 1970 ab Bahnhof Basel SBB (© Staatsarchiv Basel-Stadt).

"Lebensweltliche Integration" und Einbürgerung

Und dann der dritte Schritt: Die "lebensweltliche Integration" durch Wahl eines geeigneten Wohnorts. Nach dem Tod meines Grossvaters 1932 konnten meine Grossmutter und die Tochter – meine Mutter – von ihrer Zweizimmerwohnung in eine Dreizimmerwohnung umziehen. Der Umzug war ein sozialer Aufstieg. Wohnte die Familie zunächst an der als "Italienerghetto" verrufenen Bartenheimerstrasse, waren sie nun nach Auskunft des Basler Adressbuchs in einem Haus an der Eichenstrasse eingemietet – einer Strasse, an der fast nur Schweizer*innen wohnten.

Es war offensichtlich die gute Schulbildung meiner Mutter, die diesen Wechsel möglich machte. Zu verdanken war das im Wesentlichen dem sozialen Basel der 1930er-Jahre. Die Immigrantentochter konnte an die acht obligatorischen Schuljahre zwei weitere Jahre in der Handelsklasse der Mädchensekundarschule anschliessen. Der Lehrplan bot eine höhere Mädchenausbildung. Statt Kochen und Handarbeit enthielt er Lektionen in Rechnen, Buchhaltung, Englisch und Stenographie. Unterricht und Lehrmittel waren kostenlos.

Mit diesem "gefüllten Schulrucksack" konnte meine Mutter im Frühjahr 1930 – inmitten der Weltwirtschaftskrise – offenbar mühelos in die Arbeitswelt einsteigen; zunächst bei einer Firma für Büromaschinen. Ihr gelang der vierte und letzte Schritt zur Integration: der Erwerb der Schweizer Nationalität, im Fall meiner Mutter durch die Heirat mit einem Schweizer. Meine Mutter lernte ihren zukünftigen Mann an ihrem Arbeitsplatz kennen; er war 1939 aus Appenzell Innerrhoden nach Basel gekommen und wurde Geschäftsführer einer Firma für Export und Import von Getreide. Bei dieser Firma arbeitete meine Mutter zeitlebens als Buchhalterin.

Trio in der Stadt
Meine Mutter – Alvara Distri – links im Bild mit meinen Grosseltern als Trio in der Stadt (© Familienarchiv Clemens Locher).

Aufstieg im Eiltempo

Das Paar bekam vier Kinder. Ihnen allen gab die Humanistenstadt Basel die Möglichkeit zum Studium. Die Zeitläufte – die Goldenen Nachkriegsjahre – boten uns diese Chance. Selbstverständlich war es dabei wichtig, dass unsere Ausbildung am Gymnasium und an der Universität wenig kostete. Auf diese Weise gelang uns im Eiltempo ein Aufstieg, der sonst oft mehrere Generationen dauerte.

Quellen

Philipp Ther, Die Aussenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa (Berlin 2017).

Abb. 1: Heimreise italienischer Gastarbeiter, 17.12.1970: Staatsarchiv Basel-Stadt, Fotoarchiv Hans Bertolf, BSL 1013 1-4853 1.

Abb. 2: Alvara Distri mit meinen Grosseltern: Familienarchiv Clemens Locher.

Autor

Markus Locher hat über die Schulgeschichte des Kantons Basel-Landschaft doktoriert. Von 1975-2013 unterrichtete er unter anderem Geschichte und Politik an der Wirtschaftsmittelschule in Reinach. Heute ist er engagierter Grossvater und als Publikumsvertreter Mitglied des Schweizerischen Presserates. Er ist Mitglied des Vereins Basler Geschichte.