"Verhöhnung von Bundesrat und Armee?" Alfred Rassers Kritik an der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg

Text: Pascal Michel

"Réduit und Neutralität haben gesiegt." Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verdrängt die Schweiz eine kritische Aufarbeitung ihrer Rolle während der NS-Zeit. Der Basler Kabarettist Alfred Rasser greift dieses Geschichtsbild früh an. Mit seiner Figur "HD-Soldat Läppli" thematisiert er Rüstungsgeschäfte, Flüchtlingspolitik und die opportunistische Haltung der Schweiz. Der Hilfsdienst-Soldat Theophil Läppli avanciert innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsrenner – und ruft die Behörden auf den Plan.

Die Polizei im Publikum

Als der Kabarettist Alfred Rasser (1907-1977) am 20. Dezember 1947 mit seinem Stück "Demokrat Läppli" im Varieté Trischli in St. Gallen aufspielt, sitzt Wachtmeister Spirig vom Spezialdienst des Polizeikommandos St. Gallen im Publikum. Er hat den Auftrag zu protokollieren, ob "in dieser Komödie die oberste Landesbehörde und das Militär lächerlich gemacht und verhöhnt" würden, und es damit "dem Kommunismus Vorschub leiste". So hatte es ein besorgter Bürger der Polizei gemeldet.

Dieselben Bedenken bestehen bereits bei der Premiere von Rassers Stück "HD-Soldat Läppli" am 31. Dezember 1945 in Basel. Mit diesem feiert der Kabarettist einen Grosserfolg: Das Küchlin-Theater ist monatelang ausverkauft. Der Hilfsdienst-Soldat Theophil Läppli, der in ausgeprägtem "Baseldytsch" die Leerläufe und Sinnhaftigkeit der Schweizer Armee auf die Schippe nimmt, begeistert das Publikum. Doch die Armeefreunde toben. So titulieren die "Neuen Zürcher Nachrichten" das Stück als "Theater für Primitive". Rassers Popularität tut dies keinen Abbruch. Er selbst zeigt sich erstaunt über den Erfolg und hält weiter an seinen moralischen und politischen Botschaften fest.

Abb. 1: Alfred Rasser in "HD-Soldat Läppli", 1959 (© Getty Images).

Ein Basler Kabarettist

Geboren am 29. Mai 1907 in Basel und dort aufgewachsen, imitiert Alfred Rasser bereits als Vierjähriger den Pfarrer im stillen Kämmerlein. Im städtischen Gymnasium sind es dann die Lehrer, die er nachspielt. Rasser muss in die Realschule wechseln und macht eine Lehre als Spediteur. Ab Herbst 1928 besucht er die neu eröffnete Schauspielschule am Konservatorium Basel. Der Durchbruch gelingt ihm, als ihn der Kabarettist Charles Ferdinand Vaucher an das Basler Küchlin-Theater holt. 1935 spielt Rasser im Kabarett "Resslirytti" erstmals öffentlich die Figur des "HD Läppli", bevor er zum Kabarett "Cornichon" in Zürich wechselt. 1943 gründet Rasser in Basel sein eigenes Theater: den "Kaktus". Zeitlebens bleibt er mit Basel verbunden. Die meisten seiner Premieren spielt er in seiner Heimatstadt.

Küchlin-Theater Basel
Abb. 2: Allein in Basel besuchten rund 30'000 Zuschauer*innen die Aufführungen von "HD-Soldat Läppli" im Basler Küchlin-Theater. Als Kino «Pathé Küchlin» ist das imposante Gebäude in der Steinenvorstadt inklusive dem grossen Theatersaal weitgehend erhalten geblieben (© Staatsarchiv Basel-Stadt).

Waffen und Flüchtlinge

Dass Rassers Figur des Theophil Läppli derart polarisiert und in St. Gallen sogar die Polizei auf den Plan ruft, liegt vor allem daran, dass Rasser den Finger früh auf wunde Punkte betreffend die "Wehrhaftigkeit" der Schweizer Armee und die Rolle der Schweiz während der NS-Zeit legt.

Im Stück "Demokrat Läppli" greift Rasser offen das Bild der Schweiz als Sonderfall im Zweiten Weltkrieg an. Besondere Erwähnung in Wachtmeister Spirigs Protokoll findet etwa die Szene, als Läppli mit seinem Vormund auf einer Parkbank vor der Konservenfabrik auf den Antritt seiner neuen Stelle wartet. Spirig rapportiert: "Er [Läppli] erfährt, dass in der Fabrik auch Waffen und Munition hergestellt werden. Er frägt: För d’Schwyz oder auch für andere? Der Vormund zuckt die Achseln und Läppli sagt, wir wissen es einfach nicht und wollen es auch nicht wissen". In der nächsten Szene wird in der Fabrik eine Radioreportage gedreht. Läppli stellt in das Mikrofon des Journalisten klar, man produziere hier Waffen und Munition. Spirig berichtet: "Der Direktor springt ein und berichtigt, es würden hier nur Geschütze für Hagelraketen fabriziert".

Schliesslich gelangt Läppli an den Bundesrat. "Während einige Bundesräte im Sitzungszimmer einen Jass klopfen", so das Protokoll von Spirig, "kommt auch noch die Flüchtlingspolitik von Bundesrat von Steiger auf das Tapet". Unter Justizminister Eduard von Steiger schloss die Schweiz im August 1942 die Grenzen, und Polizeichef Heinrich Rothmund erliess die Weisung, Jüdinnen und Juden – von der Schweiz nicht als politische Flüchtlinge anerkannt – konsequent zurückzuweisen. Dass von Steigers Flüchtlingspolitik zum Thema wird, kommentieren die Bundesräte mit dem Ausruf, "das Spiel sei wieder einmal nicht gut gemischt". Darauf antwortet Läppli: "Sie verstehen doch sonst das Mischeln so gut". Mit dem "Mischeln" spielt Rasser auf die Kooperation der Schweiz mit Nazi-Deutschland an, die er bereits mit der Anekdote in der Waffenfabrik – die keine sein will – aufgreift.

Landkarte "Wehrhafte Schweiz"
Abb. 3: Die Landkarte "Wehrhafte Schweiz" zur Soldatenweihnacht 1940 zelebriert den Topos des archaischen eidgenössischen Kriegers. Das Faltblatt zeigt auf der Vorderseite, umrahmt von Impressionen aus dem Aktivdienst, die Orte historischer Schlachten und erzählt auf der Rückseite eine Geschichte der Schweiz von den Pfahlbauern bis zur Bundesverfassung 1874 (© Historisches Museum Basel).

"Eine Gefährdung des Wehrwillens"

Als der Kalte Krieg zunehmend eskaliert, sorgt Rassers Darstellung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg für eine Intervention der Bundesanwaltschaft. Auf Antrag der Offiziersgesellschaft, die eine "Gefährdung des Wehrwillens" fürchtet, beginnt sie 1951 gegen Rasser zu ermitteln. Vordergründig geht es darum, dass Rasser für Aufführungen im Elsass und in Deutschland ohne Bewilligung "Militäruniformen alter Ordonnanz" verwendet habe. Die Reaktion des Bundes auf Rassers "Läppli"-Figur zeigt, was in der Schweiz der Nachkriegszeit denkbar und sagbar war. Ein echter Diskurs über das Bild der neutralen, wehrhaften Schweiz bleibt Rasser durch den Kalten Krieg verwehrt. 1956 stuft ihn die Bundesanwaltschaft in einem zusammenfassenden Bericht unverblümt als "Linksextremen" ein.

Zuerst schaden Rasser die Repressalien wenig – zu gross ist die Popularität des "HD Läppli". Die Ermittlungen wegen unerlaubten Tragens von Militäruniformen bleiben ohne militärgerichtliche und disziplinarische Folgen. Weitaus mehr schadet Rassers Karriere, dass er 1954 ins kommunistische China reist. Er wird boykottiert und von der Mitarbeiterliste der damaligen Schweizerischen Rundspruchgesellschaft (SRG) gestrichen. Trotzdem schafft er 1967 die Wahl in den Nationalrat für den Landesring der Unabhängigen – und greift auch dort das Militärbudget oder die Schweizer Waffenlieferungen ins Ausland an.

Abb. 4: Nationalrat Alfred Rasser, 1971 (© Getty Images).

Ein halbes Jahrhundert nach der Premiere von "HD-Soldat Läppli" macht der Bergier-Bericht die von Rasser angeprangerten Missstände zum öffentlich heiss diskutierten Thema. Die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg, die Rüstungsgeschäfte der Schweiz und die Kooperation mit Nazi-Deutschland sind Mitte der 1990er-Jahre in aller Munde. Doch das erlebt Alfred Rasser nicht mehr. Er stirbt 1977 in Basel.

Quellen

Bundesarchiv BAR, E4320B#1990/266#6233*, C.16-06326 P, Rasser Alfred, 1907, 1947 – 1964.

Bundesarchiv BAR, E5330-01#1975/95#44994*, 98/1951/15,Rasser Alfred 1907, Tragen von Militäruniformen im Theater, 1950 – 1951.

Bundesarchiv BAR, Rapport der Kantonspolizei St. Gallen, E4320B#1990/266#6233*, C.16-06326 P, Rasser Alfred, 1907, 1947 – 1964.

Bergier, Jean-François et al., Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Zürich 2002.

Burgermeister, Nicole, Peter, Nicole, Intergenerationelle Erinnerung in der Schweiz, Zweiter Weltkrieg, Holocaust und Nationalsozialismus im Gespräch, Zürich 2014.

Rueb, Franz, Alfred Rasser, eine Monographie, Zürich 1975.

Abb. 1: Getty Images / ullstein bild, Bild-Nr. 1174005292.

Abb. 2: Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1012, 205.

Abb. 3: Historisches Museum Basel, Foto: N. Jansen.

Abb. 4: Getty Images / ullstein bild, Bild-Nr. 1174174997.

Autor

Pascal Michel studiert Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Luzern. Zuvor absolvierte er den Bachelor in Journalismus und Organisationskommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Grenzfälle - Basel 1933-1945

Im Mai 2020 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 75. Mal. Zu diesem Anlass präsentiert das Historische Museum Basel vom 21. August 2020 bis 28. März 2021 die Sonderausstellung "Grenzfälle - Basel 1933-1945" über Basel in der Zeit des Nationalsozialismus.

Zur Ausstellung erscheint im Christoph Merian Verlag eine Begleitpublikation auf Deutsch, die sich an eine breite Leserschaft richtet. Das reich bebilderte Buch versammelt Beiträge von vierzehn Autor*innen und bietet in kompakter Form Einblicke in den aktuellen Wissensstand über die Situation Basels zur Zeit des Nationalsozialismus.